Warum Canceln typisch deutsch ist

 

Als neulich in der Internet-Agentur der Texter ins Konzept das Wort »Daumennägel« schrieb, schrie es einhellig aus Grafikers und "Producers" Mund: "Was sind denn Daumennägel?" Der Texter antwortete, wobei er auf die potenzielle Flugbahn seiner Spucke achtgeben musste: "Na ja, Thumbnails." Grafiker und Producer waren empört: "Das sind doch keine Daumennägel! Das sind Thumbnails. In der Fachsprache heißen die Dinger nun mal Thumbnails."

Der Texter aber fand, dass die Engländer oder Amerikaner ein sehr treffendes Bild für diese verkleinerten Bildschirmbilder gefunden hatten. Sie sind wirklich so groß wie ein Daumennagel und erinnern zudem an jene daumennagelgroßen, gewölbten Blechbildchen mit Harz- und Schwarzwaldmotiven, die ältere Wanderer gerne auf ihren Spazierstock nageln. Es ist doch jammerschade, wenn dieser schöne Vergleich bei uns verpufft, weil man ein englisches Wort benutzt, dessen eigentliche Bedeutung kaum jemandem bewusst ist.

Nachdem der Texter schon mehrfach durch solche Merkwürdigkeiten aufgefallen war, versuchten die Kollegen, ihn mit Übersetzungsfragen immer wieder aufzuziehen: "Was heißt denn Pixel auf Deutsch?" - "Bildpunkt." - "Das ist aber fachsprachlich nicht definiert. Pixel steht nämlich für picture element." - "Ja, und? Bild-Element, Bildpunkt... Das kann man auf Deutsch genau so gut definieren wie auf Englisch. Man muss es nur tun."

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Die "Fachsprache" kommt aus der Umgangssprache.

Auffällig war, wie energisch die Grafiker und Producer in jeder dieser Auseinandersetzungen auf ihrem Privileg bestanden, eine Fachsprache zu benutzen. Und diese Fachsprache besteht in ihrem Fall fast ausschließlich aus englischen Wörtern. Der Texter jedoch übersetzte diese Wörter gewohnheitsmäßig in seinem Kopf sofort ins Deutsche und stellte fest: Sehr viele davon, wahrscheinlich die meisten, sind im Englischen gar keine Fachausdrücke, sondern entstammen der englischen Umgangssprache:
bit heißt »Stück«; eine kreativ-doppeldeutige Abkürzung des technischen Ausdrucks »binary digit«
bug heißt »Wanze« (oder allgemein »Insekt«); übertragen auf technische Fehler bzw. Programmierfehler vielleicht deshalb, weil man nach denen sucht, wie man früher das Bett nach Wanzen abgesucht hat
button heißt »Knopf«
byte ist angeblich als Abkürzung für »eight bit« entstanden, sicher mit bewusstem Anklang an bite, »Bissen« oder »Bisschen«
frame heißt »Rahmen«
hotline (hot line) heißt »heißer Draht«
online (on line) heißt »an der Leitung«
shooting heißt »Schießen«
site heißt »Stelle«, »Platz«, »Baustelle«
tool heißt »Werkzeug«
tool box heißt »Werkzeugkasten«

Manche scheinen gar der Kindersprache entnommen wie ping oder dongle. Andere wurden kreativ aus jeweils zwei umgangssprachlichen Wörtern zusammengesetzt:

corepage (core page), wörtlich: Kernseite
homepage (home page), wörtlich: Hausseite
short cut, wörtlich: Kurzschnitt oder kurz geschnitten; übertragen: Abkürzung
sitemap (site map), wörtlich: Baustellenplan
task bar, wörtlich: Aufgabenleiste
webmaster, wörtlich: Netzmeister

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies sind keine Übersetzungsvorschläge, sondern Hinweise darauf, wie im Englischen sog. Fachwörter entstehen.

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Leser bedienen oder einschüchtern

Eines Tages schrieb der Texter eine Bedienungshilfe für ein von den Programmierern entwickeltes Programm. Er stieß auf die Bezeichnung »Listenelement« und schlug vor, es durch ein Wort zu ersetzen, das die Benutzer bereits aus anderen, geläufigen Programmen kennen: Tabellenzeile. Der Programmierer protestierte: Nein, das Ding soll gerade einen Namen haben, den die Leute noch nicht kennen, damit sie in der Hilfe nachsehen und nicht denken, sie könnten damit umgehen wie mit einer Excel-Tabellenzeile.

Da prallten zwei Welten aufeinander: Der eine will dem Benutzer entgegenkommen und alles Unbekannte auf bereits Bekanntes zurückführen, damit sich der Benutzer nicht so unsicher fühlt mit dem neuen Programm. Der andere will genau das Gegenteil: den Benutzer auf Abstand halten und einschüchtern, ihm Angst einjagen vor dem großen, rätselhaften Werk des geheimnisvollen Programmierers. Früher benutzte man dafür lateinische Wörter und deutsche Schachtelsätze, jetzt ein pseudo-englisch-pseudo-deutsches Kauderwelsch.

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Der Name des Teleskops

Engländer und Amerikaner besitzen die beneidenswerte Wurschtigkeit, ein sehr großes Teleskop einfach »Sehr großes Teleskop (Very Large Telescope, VLT)« zu nennen. Im deutschen Wissenschaftsbetrieb ist das völlig undenkbar. Da würde man das Ding in schlechter alt-akademischer Tradition erst einmal Extremdurchmesser-Höchstleistungs-Spiegelteleskop nennen. Im zweiten Schritt würde man diesen Ausdruck ins Englische übersetzen, um dem Muff unter den Talaren ein weltoffenes Deo hinzuzufügen; etwa so: Extreme Radius High Performance Reflector Telescope (ERHPRT).

Der deutsche Handwerker besteht darauf, dass das, was alle Welt einen Schraubenzieher nennt, ein Schraubendreher sei. Der Werkzeug­händler verbessert den Kunden, der einen Zollstock verlangt: "Ach, Sie meinen einen Glieder­messstab." Niemand sagt Fahrtreppe zur Rolltreppe außer den Rolltreppenproduzenten, auf dem Telefonbuch stand jahrzehntelang Fernsprechbuch, und die Briefmarken heißen offiziell immer noch Postwertzeichen. In diese Reihe, liebe Grafiker, muss ich euch stellen, wenn ihr keine Symbole, Kopfzeilen, Fußzeilen, Schlagzeilen, Textblöcke kennt, sondern nur Icons, Header, Footer, Headlines und Copies. So sprach und spricht der berühmt-berüchtigte deutsche Dünkel, über den schon Heine spottete.

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Die amerikanische Lösung

Der Texter plädiert für die amerikanische Lösung: Vertrautheit und Verständlichkeit gehen vor. Vertraut und verständlich ist im deutschen Sprachraum die deutsche Umgangssprache. Im Übrigen ist der Einsatz der Anglifizierer für die Genauigkeit vorgeschoben: Wenn ein Flug ausfällt, ein Termin abgesagt und ein Auftrag zurückgezogen wird, dann ist das durchaus genauer ausgedrückt, als wenn Flug, Termin oder Auftrag gecancelt werden.

Jens Jürgen Korff (2001)

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